Sonntag, 23. Dezember 2012
Heimweh
Kürzlich ist es wieder passiert. Ich musste weinen. Heulen wie ein Schlosshund. M. stürzte erschrocken ins Wohnzimmer, erlitt aber sogleich einen Lachkrampf, nachdem er die Tränen fachmännisch als schwangerschaftsinduziert beurteilt hatte: Im Fernsehen wurden nämlich Aufnahmen von Appenzeller Sylvesterchläusen gezeigt, die vor eindrücklicher Bergkulisse ihre Zäuerli zum Besten gaben.
Mittlerweile wäre M. nicht mal mehr aus der Ruhe zu bringen, wenn mir plötzlich grüne Haare wachsen würden: Er hat sich daran gewöhnt, dass schwangere Frauen alle möglichen schrägen, aber harmlosen Macken und Zipperlein entwickeln. (In der Regel reagierte er mit liebevoller Gelassenheit, wenn ich gerade wieder austickte, weil mir mein Bauch für die entsprechende Schwangerschaftswoche zu gross oder zu klein schien, oder ich plötzlich tagelang nur noch Älplermagronen essen wollte und anschliessend in Panik geriet, weil ich überzeugt war, unser Kind mit einer Überdosis Muskatnuss vergiftet zu haben.)
Ich war aber nicht so leicht zu beruhigen. Bisher hatte ich in keinem Buch und auf keiner der vielen einschlägigen Websites darüber gelesen, dass es in der Schwangerschaft üblich war, beim Anblick von Bergpanoramen und singenden Männern in wunderlicher Kleidung weinen zu müssen.
Warum also passierte es mir immer wieder?
Für die Lösung des Rätsels musste ich mich zur Selbstanalyse auf meine imaginäre Couch legen. Meine imaginäre Therapeutin setzte sich in den imaginären Ohrensessel, schaute kurz auf ihr imaginäres Klemmbrett und sagte dann: "Es hat etwas mit Ihrem Inneren Kind zu tun". Nun, darauf wäre ich auch selber gekommen. Es MUSSTE mit dem inneren Kind zu tun haben. Nämlich dem, das gerade in mir wuchs. Vor der Schwangerschaft hatte ich schliesslich auch nie geheult, wenn ich Berge sah.
"Und mit Ihrem Vater. Und Ihrer Mutter", beeilte sich die Therapeutin zu ergänzen.
Klar. Seelische Sperenzchen haben IMMER mit den Eltern zu tun. Das konnte sogar mein bodenständiges Ich nachvollziehen.
Kurz schweiften meine Gedanken ab, um sich zu sorgen, wie ich wohl mein Kind mal verkorksen würde.
"Zurück zum Thema", sagte meine Therapeutin. "Ihre Eltern. Was haben sie mit den Bergen zu tun?" "Nun, mein Vater ist ein begeisterter Berggänger. Und meine Mutter ist in den Bergen aufgewachsen. Meine eigene Bergliebe liegt mir also im Blut. Und nun wird diese eben auf mein Kind übertragen!" Rätsel gelöst! Schon wollte ich von der Couch springen.
"Nicht so hastig", mahnte die Therapeutin. "Wie fühlt es sich denn an, dieses Weinen?" Wie es sich anfühlt? Traurig natürlich. Irgendwie sehnsüchtig, wie Heimweh. "Ha", rief die Therapeutin, "Da haben wirs! Heimweh!"
Wie aber konnte ich, derzeit wieder im Haus meiner Kindheit lebend, beim Anblick von Bergen Heimweh verspüren? Zumal die Gegend, in der ich ausgebrütet, geboren und aufgewachsen war, so nichts, rein gar nichts mit Bergen zu tun hatte? Im Gegenteil war sie gemeinhin unter dem etwas abschätzigen Begriff "Agglo" bekannt.
Wenn ich es mir so recht überlegte, musste ich zugeben, dass wohl kaum einer, der hier aufwuchs, stolz auf seine Herkunft ist. Und warum sollte er, ist der Ort doch nicht viel mehr als eine unwillkürliche Ansammlung von anonymen Wohnblocks und einer Handvoll Einfamilienhäuser, kern- und zentrumslos, eingeklemmt zwischen Auto- und Eisenbahn. Ein Schlafplatz. Weder Stadt noch Land. Ausser der Migros und der Dönerbude gibt es kaum ein Geschäft, das hier wirklich floriert. Vereine müssen trotz der grossen Anzahl Einwohner um jedes Mitglied bangen. Das Leben findet anderswo statt.
Und vor allem bildet sich hier, fernab von Sylvesterchläusen, Tschäggättä, Morgenstraich, Schwingete, Albanifest und Alpabzug, keine identitätsstiftende Gemeinschaft, keine regionale Eigenheit, kein Brauchtum, keine Tradition, die von einer Generation zur nächsten übertragen wird.
Mit Schrecken stellte ich fest: Es ist ein Ort ohne Seele! Ich fühlte mich plötzlich wie ein entwurzelter Baum. Die Therapeutin reichte mir ein imaginäres Pack Taschentücher und lächelte selbstgefällig.
Wollte ich hier wirklich ein Kind aufziehen? Das Kind, das ich mit Tränen in den Augen erst vor kurzem das allererste Mal gesehen hatte, auf einem Bildschirm in einer Arztpraxis, fröhlich und völlig unbekümmert in meinem Bauch herumturnend, nicht wissend, welche tiefe Liebe mich bereits mit ihm verband, welche Gedanken ich mir bereits um sein Wohlergehen und seine Zukunft machte?
Der Anblick der singenden Sylvesterchläuse, der Berge, löste in mir eine Sehnsucht aus nach einem Ort, den das Kind würde Heimat nennen können. Einen Ort, den es in der Fremde mit Stolz auch als solche würde bezeichnen können. Einen Ort, den es sogar Jahre, nachdem es ihn zum Studieren, Reisen oder Arbeiten verlassen hat, noch besuchen wird, wenn das Dorffest oder der grosse Umzug oder was auch immer stattfindet. Nicht nur, weil es dort seine alten Schulkameraden und Nachbarn wiedersehen wird, sondern auch weil es Tradition ist. Und dann, wenn es gross ist, wird es vielleicht seine Kinder hier aufziehen wollen.
Nun musste ich nur noch M. überzeugen, dass wir von unserem hässlichen, aber verkehrstechnisch sehr günstig erschlossenen Wohnort in den Kanton Appenzell ziehen mussten. Oder ins Engadin. Oder ins Lötschental.
M. war sofort dafür. Wenn er Hausmann werden durfte und ich fortan täglich die zweieinhalb bis drei Stunden Pendlerzeit auf mich nehmen würde, um unser Brötchen zu verdienen.
Ausserdem, argumentierte er, unsere Familien und Freunde waren hier. Wenn uns schon hier in der Agglo kaum jemand besuchte (Treffen fanden stets in der nahe gelegenen Grossstadt statt), würden wir in einem idyllisch, aber abgelegenen Weiler wohl erst recht vereinsamen. Und bestimmt unterschätzten wir auch, wie lange es dauern würde, in einem Dorf als Zugezogene akzeptiert zu werden. Natürlich hatte er Recht.
Ich dachte an meine eigenen Kindheit zurück, die ich im erwähnten Vorstadtsiedlungsbrei verbracht hatte. Dazu noch in den 80ern. War sie trostlos und elend gewesen? War ich aufgrund der mangelnden Dorfgemeinschaft, der fehlenden Traditionen innerlich leer und seelenlos geworden? Nein. Meine Kindheit war eine erfüllte und reiche Zeit gewesen.
Wir haben Schneehütten und Tipis gebaut. Wir haben Geschichten erfunden, Schlangenbrot gebacken und Hexensuppen gebraut. Haben Kaulquappen gefangen und den Königsnachtkerzen beim Aufgehen zugesehen. Wir sind barfuss durch den Schnee gerannt. Sind in der Badi vom Fünfmeterbrett gesprungen. Haben den Osterhasen gesucht, uns vor dem Samichlaus gefürchtet und das Christkindli herbeigesehnt.
Eine Kindheit wird schliesslich nicht nur von dem Ort geprägt, an dem sie stattfindet, sondern auch von den Eltern.
Als Mutter kann ich aktiv dazu beitragen, dass mein Kind ein paar schöne Erinnerungen an seine Kindheit im Herzen haben wird. Egal wo es aufwächst.
Und als ich kürzlich aus dem Fenster auf die dunkle Quartierstrasse sah, nur erleuchtet von der Leuchtreklame des Thai-Restaurants gegenüber, da fielen plötzlich weisse Flocken vom Himmel und mit ihnen tauchten Samichläuse auf, die mit ihren Schmutzli und ihren Eseln und einer Schar Kinder und Erwachsener mit Fackeln und Laternen vom Wald her die Strasse hinunterzogen.
Später erfuhr ich, dass es sich dabei um den Chlauseinzug gehandelt hatte, der übrigens JEDES JAHR stattfinde.
Ab nächstem Jahr bin ich auch dabei.
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