Freitag, 12. Februar 2016

Geburt, die Zweite

Kürzlich whatsappte mir eine liebe Freundin ein wunderschönes Geburtsfilmchen. Darin sieht man eine strahlende, kugelbäuchige Frau, die im goldenen Licht der Herbstsonne mit ihren zwei strahlenden, adrett gekleideten Kindern herumtollt, ein föhnfrisierter Golden Retriever ist, glaube ich, auch noch dabei und wenn nicht, hätte er zumindest gut dazu gepasst. Es muss eine mir bis anhin unbekannte Art sein, die ersten Wehen zu verarbeiten, denn zu Hause angekommen legt sich die Kugelbäuchige, immer noch strahlend, in ein grosses Kinderplanschbecken mitten im Wohnzimmer, derweil ihr Ehemann ihr mit einem Waschlappen sanft die Stirn abtupft. Eine andere Frau, vermutlich die Hebamme, massiert ihr die Schultern. Zwischendurch verzieht die Gebärende, aber nur ein kleines bisschen, das Gesicht, schliesst mal kurz die Augen, oder schnuppert an einem Fläschchen mit ätherischem Öl, nur um gleich wieder gütig zu lächeln. Und alsbald zieht sie einen lebensfrischen Säugling aus dem Wasser. Zumindest der lächelt erstmal nicht.

Eine Traumgeburt. Sozusagen ein Werbespot fürs natürliche Gebären.

Klar wurde bei den Dreharbeiten ein bisschen geschummelt. Zum Beispiel dient die atmosphärische Musik, die dem ganzen Film unterlegt wurde, nur dazu, dass man nicht hört, dass die Frau zwischendurch mal "Verdammt!!" und "So ne Scheisse!!" brüllt. Auch wurde die Szene entfernt, in der die Frau droht, dem Mann die Ständerlampe überzuziehen, wenn er noch einmal mit dem blöden Waschlappen kommt, weil sie nun keinen verdammten Waschlappen mehr will, sondern Morphium und zwar SOFORT!!!

Und falls ich mit meinen Vermutungen falsch liege, möchte ich gerne wissen, welches ätherische Öl die Frau benützt hat.*

Ich heulte natürlich trotzdem Rotz und Wasser. Schliesslich war ich schwanger.




Fast ein Werbespot für die natürliche Hausgeburt


Denn auch wenn man die Geburt ein klitzekleines bisschen realistischer gezeigt hätte, wäre sie noch immer um Meilen romantischer gewesen als meine. Und vor allem unterhaltsamer. 


Ich lag, während ich dieses Filmchen betrachtete, in einem Spitalbett. Dort wo in Bälde das Kind erwartet wurde, steckte gerade ein Schlauch, durch den man Wasser in einen Ballon pumpte, der meinen zugekniffenen Muttermund lockern sollte. Das klingt schlimmer, als es ist? Oh nein.

Fünf Tage zuvor war ich mit gepacktem Köfferchen eingerückt, in der Erwartung, bald ein Baby im Arm zu haben. Nach einem Marathon an CTGs und Ultraschalls, die alle darauf hinwiesen, dass das Baby kaum noch wuchs und mehr schlecht als recht versorgt war, hielten es die Ärzte nämlich für das Beste, meiner Gebärmutter das Sorgerecht zu entziehen und die Geburt einzuleiten, auch wenn der eigentliche Geburtstermin noch in weiter Ferne lag.

Darin waren M. und ich ja schon alte Hasen. Schon Mlis Geburt war ja eingeleitet worden. Mit einem entscheidenden Unterschied. Das Mli war elf Tage über dem Termin gewesen. Nun aber war ich fünf Wochen davor. Mein Körper hatte noch keinen Gedanken an die Geburt verschwendet und widersetzte sich entsprechend stoisch allen Versuchen der Ärzte und Hebammen, ihn auch nur zu einer einzigen Übungswehe zu überreden.

(Und versucht haben sies. Zwischenzeitlich kam mir meine Gebärmutter vor wie ein Hochsicherheitstresor, den eine Bande weissgekleideter Ganoven zu knacken versucht. O-Ton: "Hm, Rumschrauben hat nix genützt. Probieren wirs mal mit Dynamit." - Geht klar, Boss. Und sonst halt Presslufthammer." - "Und wenn das auch nicht klappt, nehmen wir Säure." - "Sauber, Boss, machen wir.")

Eigentlich wäre das ja ganz gemütlich gewesen, den ganzen Tag zu ruhen, zu lesen und zu spazieren und das Essen serviert zu bekommen, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass ich vermutlich bald sehr lange nicht mehr würde in Ruhe essen und schlafen können. Aber so richtig geniessen konnte ich es trotzdem nicht, mit dem Wissen, dass das Mli mich zu Hause vermissten. Täglich musste mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Grosseltern, Tanten und Gottis ein neues kompliziertes Betreuungssystem ausgetüftelt werden, damit es keine Minute unbeaufsichtigt war. Ausserdem machte ich mir Sorgen um das Baby. Würde es die Geburt gut überstehen? Würde es trotz seines geringen Geburtsgewichts mit mir nach Hause gehen dürfen? Würde es gesund sein? 
In den schlaflosen Nachtstunden spürte ich es heftig in mir rumzappeln und hoffte fest, dass es die Aufregung, die wegen ihm herrschte, nicht mitbekam.

Nach fast zwei Wochen und diversen weniger schmerzhaften, als vielmehr entwürdigenden Prozeduren, die allesamt wirkungslos geblieben waren, hatte ich die Hoffnung aufgegeben, mein Kind selber zu gebären.
Da der Kleine bei praktisch jedem Ultraschall eine andere Lage gezeigt hatte, hatte ich mich ohnehin mit einem möglichen Kaiserschnitt anfreunden müssen. Besonders gern lag der junge Mann nämlich mit dem Po oder den Füssen vor dem Ausgang. Kaum aber hatte ich mich jeweils an den Gedanken gewöhnt, dass man mich aufschnippeln würde, drehte er sich - schwupp - wieder auf den Kopf.

"Ich möchte einen Kaiserschnitt", teilte ich also der an diesem Tag zuständigen Hebamme, einer besonders sauertöpfischen, resoluten Person, die scheinbar den Tagen nachtrauerte, wo man als Angestellte einer Heilanstalt Einläufe, heisse Bäder und Elektroschocks machen durfte, mit. Ich wusste ja schon von der ersten Geburt her, dass man beim Eintritt in den Spital jede Würde an der Reception abgibt, aber diese Frau hatte noch nicht mal davor zurückgescheut, mich im Aufzug vor anderen Leuten zu fragen, ob ich denn nun endlich Stuhlgang gehabt hätte.
(Ich beeile mich anzumerken, dass alle anderen Hebammen, die mich in der Zeit vor und während der Geburt betreuten, sehr freundlich und einfühlsam waren.**)

Ich hatte die Schnauze bis oben voll, über meine Darmtätigkeit Auskunft geben zu müssen, täglich von mehr oder weniger sorgenvoll dreinblickenden Personen gestochen, abgetastet, abgehört, durchleuchtet und geschallt zu werden. Mir war bewusst, dass der Kaiserschnitt auch kein Spaziergang war, und fürchtete mich davor mindestens so sehr, wie vor der natürlichen Geburt, aber ich mochte die Ungewissheit und die Warterei nicht mehr länger ertragen.

Eine Ärztin wurde gerufen und gemeinsam einigten wir uns darauf, noch den Freitag abzuwarten und dann je nach Kapazität der Ärzte am Samstag- oder Sonntagmorgen einen Kaiserschnitt durchzuführen. Man begrüsste meinen Entscheid, nicht nur, weil das Einzelzimmer, das ich seit zwei Wochen besetzte, dringend gebraucht wurde, sondern auch weil das Fruchtwasser anscheinend langsam versickerte.

Als mich die am Freitagmorgen zuständige Hebamme also fragte, ob sie angesichts des baldigen Kaiserschnitts als letzte mögliche geburtsanregende Massnahme die Fruchtblase aufstechen dürfe, reagierte ich gelassen, rollte aber innerlich die Augen. Felsenfest davon überzeugt, dass auch diese Massnahme nichts bringen würde,  beantwortete ich noch ein paar Mails, schrieb einen Artikel fertig und spazierte dann lässig ins Gebärzimmer. 

Wegen meiner Vorgeschichte war ich natürlich kein bisschen erstaunt, dass es der Hebamme nicht gelang, die Blase platzen zu lassen. Sie aber gab sich nicht so schnell geschlagen.
"Wir versuchens mit Oxytocin", meinte sie. "Das sollte ganz leichte Kontraktionen auslösen, welche die Fruchtblase so zusammendrücken, dass ich besser zugreifen kann." 
Na klar. Prima. Nur zu. Aber gerne doch. Gute Idee. 
"Morgen ist der Kaiserschnitt. Morgen ist der Kaiserschnitt. Morgen ist der Kaiserschnitt", wiederholte ich innerlich mein Mantra und liess mir den Venenzugang legen. Dann widmete ich mich wieder interessanteren Dingen wie meinem Mittagessen und dem Newsfeed.

Eine Stunde später schien mir das Spitalbett plötzlich sehr unbequem. Das leichte Ziehen in meinem Rücken, liess sich nicht mehr länger ignorieren. Trotzdem weigerte ich mich, in Aufregung zu geraten: So weit war ich diese Woche auch schon gewesen und dann war schliesslich doch nichts passiert. Trotzdem beschloss ich, mit meinem Kanülenständer easy etwas durch den Spitalgang zu wandern. Daraus wurde aber nichts, denn schon stand das nächste CTG an. "Sie haben Wehen!", rief die Hebamme begreiflicherweise begeistert. Bestimmt waren im Team schon Wetten abgeschlossen worden, wem es gelingen würde, mich endlich in Gebärlaune zu versetzen.
Ich blieb noch immer cool. Dennoch hielt ich es für das beste, den Kindsvater auf den neusten Stand zu bringen. "Vielleicht tut sich was. Komm doch nach Arbeit direkt hierher", whatsappte ich also und war nicht im geringsten beunruhigt, dass ich mich zwischen den beiden Sätzen kurz über eine Stuhllehne hängen musste.

Eine halbe Stunde später rief ich ihn an.

"Du musst herkommen!", keuchte ich in den Hörer. "Bin schon unterwegs. Ich packe jetzt gleich zusammen und geh dann auf den Zug", antwortete er gelassen, während ich mir ein "Wwwwwwuuuuuaaahhrgghh", verkniff. "Nicht auf den Zug!! Nimm ein Taxi!!" brüllte ich. "Du musst JETZT SOFORT kommen!"

Als er eine weitere halbe Stunde später ins Zimmer kam, war ich bereits auf allen Vieren auf dem Fussboden und röhrte wie ein brünftiger Hirsch. Noch nie war ich so erleichtert gewesen, zwei schwarze Hosenbeine zu sehen. 

Die Wehen waren wie langsam anrollende, immer heftiger und stärker werdende Wellen. Ich versuchte verzweifelt, mir in Erinnerung zu rufen, was ich im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Dumm nur, dass der schon zwei Jahre her war. Als Zweitgebärende hatte ich es nicht mehr für nötig gehalten, nochmal einen zu besuchen. Zum Glück hatte ich ja nun zwei Wochen Zeit gehabt, im Internet rumzugammeln und nebst Ideen für Kinderzimmereinrichtungen und Wiederholungen von "Friends" hatte ich mir doch auch noch den einen oder anderen Tipp fürs "natürliche" Gebären angesehen. Ich hatte sogar, ich gebe es zu, einige Hypno-Birthing-Posts gelesen.

(Einen entsprechenden Kurs zu machen hatte ich aber immer entschieden abgelehnt. Ich kann mir zwar durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, denen es gelingt, Schmerzen komplett auszublenden. Vermutlich leben sie in einem tibetischen Kloster und hatten die letzten 50 Jahre den lieben langen Tag Gelegenheit, das zu üben. Nach einem eintägigen Kürsli, wie es beispielsweise ein Ehepaar in der Innerschweiz veranstaltet, halte ich es für eher unwahrscheinlich, Schmerzen von der Grössenordnung einer Wehe mit einem entrückten Lächeln auf den Lippen ertragen zu können, ohne dabei nicht auch noch eine Lastwagenladung hochgradiger Opiate intus zu haben.)  

Also, na los, wir schaffen das, Baby. Einatmen. Aaaauuuusaaaatmeeen. Nicht den Kiefer zusammenpressen. Nicht den Kiefer zusammenpressen! Locker lassen. Entspannen. Ohhm sagen, los. Öffnen wie eine Lotosblüte, na komm. Das kann doch nicht so schwer sein. Du schaffstdasduschaffstdasduschaffstdas. Hoooooooommmh. Ööööffnennnnnngghh! Na also. Geht doch. Wieder eine geschafft.

Die nächsten zwei Stunden schienen im Nu zu vergehen. Lehrbuchmässig arbeitete ich mich durch sämtliche verfügbaren Wehenverarbeitungspositionen: Ich stand aufrecht, ging in die Hocke, legte mich auf die Seite, kreiste oder wippte auf dem Gymball oder wanderte herum, am besten aber trotzte ich den Schmerzen auf dem Fussboden kniend, den Kopf am Boden auf den Armen abgestützt, den Po in der Luft, derweil mir M. das Kreuz massierte, wo sich offensichtlich meine persönliche Geburtszentrale befinden musste, das Ballungszentrum des Schmerzes. Zwischen den Wehen legte ich mich einfach an Ort und Stelle hin, um mich kurz auszuruhen. Irgendwann stach die Hebamme dann doch noch die Fruchtblase auf. Freundlicherweise durfte ich dazu auf dem Boden liegen bleiben, obschon wir dadurch die Yogamatte unter Wasser setzten.

Weil Ys Zustand wegen seiner Vorgeschichte konstant überwacht wurde, musste ich während der ganzen Geburt CTG-Knöpfe um den Bauch tragen, kabellose zum Glück, und auch die Kanüle blieb im Arm. Das störte mich aber weniger als ich gedacht hätte. 

Y schienen die Strapazen glücklicherweise völlig kalt zu lassen. Sein Herzchen schlug wacker und regelmässig. M. hingegen musste hautnah mitleiden. Nicht mal auf dem Klo durfte er meine Seite verlassen. Ich krallte mich an seinem Arm fest. Dass mir rein gar nichts mehr peinlich war hätte mir eigentlich zeigen sollen, dass es dem Finale zuging.

Ich beschloss, in die Wanne zu wechseln, da ich hoffte, mich vor dem Endspurt noch etwas entspannen zu können. Kurz vorher untersuchte mich die Hebamme noch mal. "5 cm", meinte sie mitleidig und hiess mich, noch nicht zu pressen, auch wenn ich einen Druck spüren würde. Ich entnahm dieser Mitteilung, dass die Geburt noch eine ganze Weile dauern würde. Erstaunte mich gar nicht, schliesslich hatte ich beim Mli gut 18 Stunden in den Wehen gelegen. Nun waren wir gerade mal etwas mehr als drei Stunden dran. Und ich hatte noch weitere 5 cm vor mir. Die Hebamme machte sich auf die Suche nach Buscopan. Dies sollte den Muttermund noch etwas weicher machen.

Ich hievte mich zwischen zwei Schmerzwellen in die Wanne, nackt, versteht sich. Dass ich einen Bikini im Koffer gehabt hätte, war mir in dem Moment so etwas von schnurz. Die Anwesenden würde sowieso bald sehen, wie mir ein Kind aus der Vagina rutscht, da spielte es keine Rolle, wenn sie den Rest auch noch sahen. Wie gesagt war mir nichts mehr peinlich.

Ich genoss das warme Wasser. Etwa drei Sekunden lang. Dann gab ich das ganze Mittagessen zurück. Zum Glück war mein geburtsgeübter Mannn rechtzeitig mit einer Schüssel zur Stelle. Hatte ich schon erwähnt, dass mir rein gar nichts mehr peinlich war?

Die nächste Wehe war plötzlich nicht mehr wie eine langsam anrollende Welle. Es war ein Orkan, ein Taifun, ein Tsunami,das schmerzhafteste, überwältigendste und stärkste Gefühl, das ich je hatte. Etwas, das weit, weit stärker war als ich, drückte mich innerlich mit aller Kraft Richtung Erde. Jemand brüllte wie ein sehr wütender Bär. Sekundenbruchteile später realisierte ich, dass es meine Stimme war. Ich drückte, presste und brüllte gleichzeitig so laut wie ich noch nie in meinem Leben. Ich hatte keinen Einfluss darauf, was in dem Moment geschah. In dem Moment NICHT zu pressen wäre absolut unmöglich gewesen. Ich presste nicht. Mein Körper tat es, ohne dass ich es hätte verhindern können.  

In der kurzen Pause, die folgte, schrie ich: "Das Baby kommt!!! Das Baby kommt!!"

M. raste in den Gang und schnappte sich die nächstbeste Person, die des Weges kam. Glücklicherweise war es eine Hebamme und keine Putzfrau.

Mit sanfter Gewalt drückten sie mich ins Wasser, denn ich war vor lauter Schreck aufgestanden. Bei der nächsten Presswehe eilte meine eigentliche Hebamme herbei und dann rutschte das Y auch schon ins Wasser, ins Leben, knapp viereinhalb Stunden, nachdem ich betont locker ins Gebärzimmer spaziert war.   

Es war ja nicht mein erstes Kind. Trotzdem war das Wundern darüber, dass ein lebendiges Menschlein aus dem eigenen Leib rutscht, beim zweitem Mal fast noch grösser. (Wohl weil ich diesmal ohne PDA und Schmerzmittel einfach mehr bei Sinnen war.) Auch die Freude, darüber, den kleinen Menschen ENDLICH sehen und an sich drücken zu können. Und das Staunen: So ein winziges, mageres Menschlein und trotzdem vollkommen ...

1996 g Leben. Ein Hämpfeli Glück. 

**Gerne hätte ich diesen Umstand in meiner Dankeskarte erwähnt: Herzlichen Dank nochmal dem tollen Team vom 12. Stock für die aufmerksame und freundliche Betreuung während meiner zweiwöchigen Geburtseinleitung. Ausser Ihnen, Frau C., Sie sind eine grässliche Person, der jegliche Empathie abgeht. Ich wünsche Ihnen Verstopfung.

* Nachdem ich auch im Wasser geboren habe, nähme es mich noch wunder, warum das Kinderplanschbecken der Frau im Film nach der Geburt nicht aussah, wie der Schauplatz eines äusserst brutalen Horrorfilms. Haben die das Wasser gewechselt? Oder kann man als Hypnobirtherin kraft seines Willens nicht nur Schmerzen, sondern auch Blutverlust verhindern?









Freitag, 28. August 2015

Die Plazenta als Rabenmutter

Und ich dachte, die zweite Schwangerschaft sei entspannter. Kein Abwägen von Pro und Contra Impfen, keine Neuorganisation des Arbeitsverhältnisses, kein Geburtsvorbereitungskurs, keine Spitalbesichtigungen, kein Herumrennen wegen Stramplern aus Bio-Schurwolle, Wickeltisch, Babybettchen, Dondolo und den tausend anderen Utensilien, die ein Baby so braucht. Das hatten wir alles schon beim ersten Kind erledigt. Einzig die Auswahl des Namens bereitete etwas Sorgen, würde unser zweites Kind doch das selbe Geschlecht haben, wie das erste und wir hatten uns schon bei dem schwer getan.

Tatsächlich war der logistische Teil der Vorbereitung auf den neuen Erdenbürger ein Klacks. Zwar räumten wir Ms Büro zu Gunsten eines grösseren Spiel- und zukünftigen Schlafzimmers für Mli und das Chnüspi 2, aber ansonsten genoss ich es vor allem einfach wieder schwanger zu sein und der Geburt relativ gelassen entgegenzusehen.

Und dann musste ich feststellen, dass eben jede Schwangerschaft anders ist. Und nur weil ich bei der ersten keinerlei Komplikationen gehabt hatte, ausser der, dass das Kind auch elf Tage nach dem errechneten Termin nicht freiwillig aus mir herauskommen wollte, ich nicht automatisch davon ausgehen konnte, dass es in der zweiten Schwangerschaft auch so sein würde.
Oh nein.

Erstmal gelang es M. ja, mich mitten in der Husten- und Schnupfenzeit zu schwängern, so dass ich die ersten drei Monate (Januar, Februar und März) ständig krank war, vom leichten Schnupfen bis zur ausgewachsenen Grippe, welche einen Besuch beim Notarzt nötig machte, da ich mich partout geweigert hatte, Medikamente zu nehmen, um dem kleinen Wesen in mir drin nicht zu schaden und ind er Folge fast durchdrehte vor Kopfschmerzen.

War ich nicht krank, war mir übel. Nicht speiübel, aber doch so, dass mir nicht gross zum Essen war.
(Danach folgte dann übrigens die Zeit, die M. bis heute als „Nudelsuppen-Phase“ bezeichnet, da ich wochenlang immer nur Nudel-Miso-Suppe essen wollte. Und gelegentlich auch mal Tortilla-Chips zum Frühstück. Ich schwöre, das war nur einmal!)

Dann folgte das zweite Trimester, ich fühlte mich besser und alle Tests waren wunderbar gelaufen. Wir erfuhren, dass wir abermals einen Jungen erwarten durften und freuten uns sehr. Schliesslich war das Mli so ein fröhliches, lustiges und aufgewecktes Büebli, dass wir das zweite Exemplar kaum erwarten konnten.

Bis meine Frauenärztin „Auffälligkeiten“ im Hirn und in der Plazenta feststellte. Und mich deswegen zum Spezialisten überwies, der quasi den Rolls Royce unter den Ultraschallgeräten hatte. Anscheinend hatte unser kleiner Knopf Knöpfe im Kopf. Zysten, je eine links und rechts. (Die Plazenta hatte Lakunen, aber das war angeblich nichts Schlimmes. ) Die gute Nachricht war zwar, dass die anderen Organe alle tiptop aussahen, aber das hörte ich schon fast gar nicht mehr. Und auch, dass behinderte Kinder zwar oft Zysten haben, Zysten allein aber nicht zwingend ein Hinweis auf Behinderung sind.

Ich bin ein grosser Fan von öffentlichen Verkehrsmitteln aber an dem Tag hätte ich gern ein Auto gehabt. Die Leute sind sehr unangenehm berührt, wenn eine sichtlich schwangere Frau im Bus Rotz und Wasser weint.
Doch kaum hatte ich mir die schwärzesten Szenarien ausgemalt (das Kind litt darin wahlweise unter Wasserkopf, Autismus oder Epilepsie), kam es, wie es der Spezialist vermutet hatte: Um die 25. Woche verschwanden die Zysten spurlos.

Gerade wollten wir aufatmen (ich so tief man eben kann, wenn einem ein kleiner Mensch in einer grossen Fruchtblase, unter der Lunge rumzappelt) als meine Frauenärztin feststellte, dass sich der Knopf in Känguruhhaltung befand. Sprich: Füsse Richtung planmässiger Ausgang. Sie meldete uns zur Lagebesprechung im Kantonsspital an und meinte, so ganz nebenbei, die sollten auch gleich überprüfen, ob das Baby nicht vielleicht etwas zu klein war. Diesen zweiten Teil überhörte ich gänzlich, denn ich recherchierte schweissgebadet das Thema Steissgeburten. Und erfuhr soviel, dass ich wusste, dass ich das Menschlein nicht popovoran aus mir rausdrücken wollte. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass das meine spass- und reproduktionswichtigen Körperteile  unbeschadet überstehen würden. Ich löschte Steissgeburt aus dem Googlefenster und gab stattdessen Kaiserschnitt ein. Beruhigte mich nicht unbedingt mehr.

Kurz nach unseren Ferien, die ich dann aber doch sehr geniessen konnte (Verdrängung ist ein unterschätztes Talent), dann also der Untersuch.  Und da die frohe Botschaft: Das Kind hat sich gedreht! Freudestrahlend wollten wir uns verabschieden, da kam das grosse ABER.

ABER. Es war tatsächlich zu klein für sein Alter ... Viel zu klein. Und zeigte laut Doppler-Untersuch bereits eine nicht ganz optimale Durchblutung im Gehirn und der Nabelschnur an. Zentralisation heisst das Stichwort, bzw. Kompensation dafür, dass es anderswo eben haperte. Meine Plazenta schien eine Rabenmutter zu sein, die vermutlich lieber kettenrauchend bei der Maniküre sass und TV schaute, als dem Baby was Leckeres, Nahrhaftes zuzubereiten aus den gesunden Bio-Zutaten, die ich ihr lieferte (ok mal abgesehen von der täglichen Schoggi-Glace-Ration, aber die ass ich ja für mich, wie man dem wachsenden Hüftgold ansehen konnte).

Und so begann mein letzter Schwangerschaftsmonat, den ich in einer Blase zweitgebärender, erdmütterlicher Gelassenheit hatte verbringen wollen, die letzten Wochen und Tage als Kleinfamilie geniessend: ein Marathon aus CTG und Ultraschall-Kontrollen im Spital und dazwischen hektisches Fertigstellen von Magazin- und Zeitungsartikeln, für die ich eigentlich viel mehr Zeit vorgesehen hatte. 

Dazwischen wusch ich. Säuglingskleider, neue, noch kleinere Säuglingskleider, Stillkissenbezüge, Bettwäsche, Vorhänge und dann nochmal Säuglingskleider. Irgendwie wirkte das seltsam beruhigend. (Auf mich. Auf M. weniger, obwohl er dieses Verhalten von der letzten Schwangerschaft her hätte kennen müssen.)

Zum Glück schaute Mli, das ich nicht völlig von der Rolle fiel, nicht nur, weil er die Aufmerksamkeit weg von meinem Bauch auf seine Bedürfnisse lenkte und uns mit seinen Kapriolen zum Lachen brachte, sondern auch, weil er uns zwang, das Haus zu verlassen und so in diesen letzten goldenen Sommertagen nochmal etwas Zeit gemeinsam zu verbringen. 

Zeit, die bald sehr rar sein würde.








  

Dienstag, 5. Mai 2015

Sportlich war gestern

Lieber schlafen, als joggen.

Als ich vor einigen Wochen mit hochrotem Kopf vom Joggen kam, musterte mich M. mit sorgenvollem Gesicht. "Also, eigentlich finde ich das gar nicht gut, was du da machst", meinte er. 

Bevor ich gerührt sein konnte, dass er um mein und/oder des Kindes Wohl bedacht war, ergänzte er: "Das ständige Geschaukel führt nur wieder dazu, dass es uns mit dem Baby dann wieder geht wie mit dem Mli."

Tja. Das war in der Tat zu befürchten. Das Mli, unser Sohnemann, hatte nämlich so ziemlich die gesamten ersten vier Monate seines Lebens darauf bestanden, sich auf einer lebenden Person aufzuhalten, welche ihn im Idealfall noch schaukelte. Und zwar nicht hin und her, nein, auf und ab. Dann war er das glücklichste und zufriedenste Baby der Welt. Was hiess, dass wir die ersten vier Monate de facto auf dem Gymnastikball lebten. Ich hatte sogar gelernt, so zu essen: Das Mli im Tragetuch angeschnallt auf dem Gym-Ball wippend. Wegen akuten Schweiss- und Milchausbrüchen war zeitweise auch das Dondolo zum Einsatz gekommen. Aber wehe, der Sklave hörte auf das, das Ding zu wippen. Sofortiges, empörtes Geschrei war die Folge.

M. war überzeugt, dass es daran lag, dass ich in Mlis Schwangerschaft so oft joggen war. 
Aber seine Sorgen sind völlig unbegründet. Denn in dieser zweiten Schwangerschaft sehe ich es schon als sportliche Herausforderung, ohne Verschnaufspause in mein Büro im dritten Stock zu gelangen. Erstens schien ich in den ersten drei Monaten jeden Käfer, der herumschwirrte freudig bei mir willkommen zu heissen (mein Immunsystem hatte sich vermutlich eine längere Auszeit genommen) und war ich gerade mal wieder gesund, war mir übel. Nicht schlimm, aber doch so, dass mir gar nicht zum Joggen zumute war. Zweitens habe ich nun ein Kind. Will heissen, ich kann nicht, wie zuvor, wenn es mir gerade passt, die Laufschuhe schnüren und losrennen.

Zwar haben wir uns einen superschicken Veloanhängerslashjoggerwagen angeschafft, enthusiastisch wie wir waren gleich einer für zwei Kids. Aber ganz ehrlich: Schiebe ich Sohnemann derzeit im Kinderwagen unsere Strasse hoch, werde ich gerne von älteren Damen am Rollator überholt. Zu meiner Verteidigung: Unser Wonneproppen wiegt mittlerweile bereits gegen 14 kg. Und meine Lunge wird vom unmittelbar benachbarten Baby doch ganz schön zusammengequetscht. 

Wehmütig denke ich an meine erste Schwangerschaft zurück. Da joggte ich noch regelmässig bis Ende 7. Monat und machte Schneeschuh- und Langlauftouren. Schwimmen und Velofahren standen noch fast bis kurz vor der Geburt auf dem Programm. 

Ich mache nun einen Aquafit-Kurs. Zwar ist es an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten, in einem öffentlichen Hallenbad zu "Ein Bett im Kornfeld" mit bunten Poolnudeln herumzufuchteln, aber meine tapferen Mitstreiterinnen, alle weiblich, über 60 Jahre und/oder 100 kg, befinden sich aktuell in etwa auf dem gleichen Sportlichkeitslevel wie ich. Und ganz ehrlich: Nach jeder 45 minütigen Lekiton bin ich saustolz, überhaupt etwas getan zu haben. 



Dienstag, 24. Februar 2015

Noch einmal von vorn

Eine zweite Linie! Eine zweite Schwangerschaft! Ein zweites Kind!
Nochmal stillen, nochmal schlaflose Nächte, nochmal voller Staunen zuschauen, wie ein Menschlein die Welt entdeckt, greifen, lachen, krabbeln und schliesslich laufen lernt.
Noch immer ein unbegreifliches Wunder, auch beim zweiten Mal!

Gewartet hatten wir auch diesmal wieder. Ein notorisch schlafunfreudiges erstes Kind, kombiniert mit einem notorisch unpünktlichen, nicht mehr taufrischen Eierstock ergab gewisse Zeugungsschwierigkeiten. 

Die Müdigkeit ist auch jetzt noch, fast zwei Jahre nach der Geburt des ersten Kindes, Dauerzustand. Der einzige in unserem Haushalt, der nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit innert Sekunden auch an den unpassendensten Orten einschlafen kann, ist unser herzallerliebster Sohnemann. 

Generell schläft er eher ungern: Er schläft nicht ein, nicht durch, nicht aus. Bis heute, 20 Monate nach seiner Geburt, können wir die Anzahl durchschlafener Nächte an einer Hand abzählen. 
Schon bezüglich seines Einschlafverhaltens müssen wir leicht neurotische Züge diagnostizieren: Er bevorzugt, sein blondflaumiges Köpfchen auf das Stillkissen gebettet, einen Nuggi im Mund und mindestens einen in der Hand zu haben und solange mit Gutenachtliedern beschallt zu werden, bis er im Land der Träume angelangt ist. 

Das kann dauern.

Da ich die "Schlaf-Chindli-schlaf"-Endlosschlaufe sehr rasch sehr über hatte, habe ich mir nun ein Repertoire von zehn mehrstrophigen Liedern beigebracht. 

(M. brummt und summt ja lieber. Das klappt ebenfalls vorzüglich. Bloss nicht bei der anvisierten Zielperson. Nicht selten schläft der Papa vor dem Kind ein.)

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei der Zeugung des zweiten. Nun, die ganzen Weihnachtsfestlichkeiten schienen diesbezüglich einen positiven Einfluss auf uns alle zu haben: Das Kind war erschöpft vom vielen Essen, den Kerzen, Kugeln, Weihnachtsliedern, Geschenken und vor allem der geballten Ladung Aufmerksamkeit der versammelten Sippe. M. und ich waren entspannt, rührselig und leicht beschwippst. Und mein Eierstock hatte passenderweise ein Ei parat.

In jeder Packungsanweisung steht, man müsse mindestens 3 Minuten warten. Ich hatte schon Tests einen halben Tag später noch mal aus dem Abfall gefischt, um zu schauen, ob er in der Zwischenzeit nicht vielleicht doch noch ein anderes Ergebnis zeigte. Diesmal aber sah ich sie quasi schon während des Pinkelns. 

Eine zweite Linie. Eine zweite Schwangerschaft. Ein zweites Kind!

Dienstag, 25. Februar 2014

Das Finale


Unter mir funkelten die Lichter der Stadt. Der nach Desinfektionsmittel riechende Linoleumboden war so grau wie mein Nachthemd. Es war drei Uhr früh und ich zog seit zwei Stunden wehklagend durch den zwölften Stock. Wie ein übergewichtiges Gespenst. Völlig unbeachtet, denn dass kugelbäuchige Frauen mitten in der Nacht stöhnend durch die Gänge watschelten, war in der Gebärabteilung des Kantonsspitals Winterthur wohl keine Seltenheit. Alle paar Minuten hielt ich inne, um auf ein plastikverpacktest Reservebett gestützt eine Wehe zu veratmen. Endlich. Endlich ging es los.


Gewartet hatte ich lange genug. Da sich meine Gebärmutter ja standhaft geweigert hatte, das Kind freiwillig herzugeben, waren wir am Tag zehn nach ET (errechneter Geburtstermin) ins Spital beordert worden, um die Geburt einzuleiten. In der Nacht zuvor hatte ich kein Auge zugetan vor Aufregung. Doch als wir am nächsten Morgen mit gepacktem Köfferchen eintrafen, schickte man uns wieder nach Hause: Die Gebärabteilung sei hoffnungslos ausgebucht. Wir sollten doch bitte schön am nächsten Tag wieder kommen.

"Wie bitte?" brüllte ich. "Jetzt habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen um hierher zu kommen, nur um wieder nach Hause geschickt zu werden? Oh nein! Ich verlange sofort, auf der Stelle und wie  abgemacht in ein Gebärzimmer mit Badewanne gebracht zu werden! Schwängerer und geburtsbereiter als ich kann man nicht sein!" 


Nein, das tat ich natürlich nicht. Leute, denen man bald nackt und bloss ausgeliefert sein wird, brüllt man nicht an. Ich warf nur böse Blicke auf die stöhnende Schwangere, die eben in ein Gebärzimmer wankte. Blöde Ziege! Drängte sich einfach vor!


24 Stunden später der nächste Versuch: "Dieses Mal verlassen wir das Gebäude nicht bevor das Baby da ist", zischte ich M. beim Betreten des Spitals zu. 


Zwei Stunden später standen wir wieder vor der Drehtür. Man hatte mich nach Verabreichung der einleitenden Medikamente spazieren geschickt, "um die Wehen anzuregen". Wahrscheinlicher war, dass der Raum in der Zwischenzeit gebraucht wurde, da im zwölften Stock noch immer Hochbetrieb herrschte. Die Winterthurerinnen vermehrten sich gerade wie die Karnickel. Das Fernsehprogramm muss vor neun Monaten tatsächlich sehr schlecht gewesen sein.

M. und ich haben ja unterschiedliche Methoden der Stressverarbeitung. Ich brauche frische Luft. M. braucht Kunst. Also begaben wir uns ins Museum Römerholz, wo sich M. an alten Meistern erlabte, während ich schwerfällig durch den Park watschelte. Anschliessend stärkten wir uns im Museumscafé, sicherheitshalber auf der Terrasse. Für den Fall, dass meine Fruchtblase platzen sollte, würde hier die Sauerei einfacher zu entfernen sein."Und merkst du was?" fragte M. mit vollem Mund.  Ich horchte angespannt in meinen Bauch. Doch abgesehen von einem Rumpeln, das zweifelsfrei der Verdauung der eben verspiesenen Aprikosenwähe zugeordnet werden konnte, war es noch immer ominös ruhig. Keine Wehe weit und breit. Das stellte auch die Hebamme bei der nächsten Kontrolle fest. Also stopfte sie mich mit einer weiteren Ladung Wehenanreger und schickte uns abermals hinaus.

Beim Walchenweiher angekommen, begann es in meinem Bauch zart zu grumscheln. "Ich merke was", rief ich aufgeregt. "Schnell, mach ein Foto!" "Sollte wir nicht lieber zurück ins Spital gehen?" meinte M. besorgt. "Wäre es nicht schön, ich könnte hier gebären", sagte ich und betrachtete verträumt die sanft hin und her schaukelnden Baumwipfel, die sich auf der spiegelglatten Wasseroberfäche des Teichs spiegelten. Dann entdeckte ich die Red Bull Dose, den Hundehaufen und eine Menge grünen Algenglibber. So schnell wir konnten gingen watschelten wir zurück in die hygienisch sauberen Räume des Kantonsspitals.

"Eindeutig Wehen", bemerkte M. beim Blick auf den langen Streifen, den das CTG-Gerät ausleierte. Nach den gefühlten 1000 CTG-Tests der letzten Tage hielt er sich für einen Fachmann. "Wehen", bestätigte dann aber auch die Hebamme.

Wehen sind ja launische Diven. Man weiss nie, ob sie nun tatsächlich zur grossen Show ansetzen, oder erst mal nur ein bisschen ihr Publikum plagen, um dann, wenn die Aufregung am grössten ist, wieder für eine Weile hinter dem Vorhang zu verschwinden. Bei der Art und Weise wie ich vom Personal des Spitals behandelt wurde, schienen sich bei meinen Wehen eher um letztere zu handeln. (Schliesslich stand die angehende Mutter noch immer aufrecht, war vollständig angezogen und verständigte sich mit klar artikulierten und anständigen Wörtern in Zimmerlautstärke. Es konnte sich also noch nicht um wirklich schlimme Schmerzen handeln.) Also beliess man uns vorerst im Untersuchungszimmer. Man brachte uns ein zweites Bett und zwei Abendessen, welche M. beide verschlang, bevor er in Tiefschlaf fiel. Ich hoffte, das Kind würde dereinst sein unerschütterliches Temperament erben. 


Bei mir hingegen war weder an Schlaf noch an Essen zu denken. Und je mehr ich mir sagte, dass ich die Stärkung für später brauchen würde, desto weniger müde und hungrig war ich. Dennoch nickte ich kurz vor Mitternacht ein. Nur um eine knappe Stunde später festzustellen, dass ich keine bequeme Position mehr finden konnte: Das zarte Grumscheln hatte sich mittlerweile in ein eher unangenehmes Ziehen im Kreuz verwandelt. Leise, um M. nicht zu wecken, schlich ich mich in den Gang. 


Bis sechs Uhr früh zog ich dort also meine Runden. Gehend Schlurfend liessen sich die Schmerzen nämlich besser aushalten. Hatte ich erwartet, dass die Geräuschkulisse im Flur der Gebärabteilung an einen Horrorfilm erinnerte, so wurde ich enttäuscht: Es war gespenstisch ruhig dafür, dass hier am Fliessband geboren wurde. (Bald würde ich froh sein zu wissen, dass Wände und Türen hier so gut schallisoliert waren, dass eine äusserst motivierte Heavy-Metal-Band proben könnte, ohne dass man im Flur auch nur einen Pieps hören würde.) 

Einmal öffnete sich eine Tür und ein Rollstuhl wurde herausgeschoben. Die Frau darin hielt ein winziges, rosiges Bündel im Arm. Ich musste ein bisschen weinen. Bald. Bald würde auch ich ein Baby im Arm halten. Dafür lohnten sich doch alle Strapazen der Welt! Baby, du und ich, wir schaffen das, flüsterte ich dem kleinen Menschlein in mir zu. So schlimm konnte das nicht werden.

"Aaaaaarrrrh!! So ein Scheiss!!" brüllte ich. "Ist Ihnen heiss?" fragte die Hebamme. "Nein, sie sagte: So ein Scheiss", übersetzte M. hilfsbereit, kurz bevor ich ihm aufs T-Shirt reiherte. So schlimm konnte das nicht werden? Oh doch, es konnte.
Die PDA wirkte nicht. Das heisst: Sie wirkte schon, nur nicht dort, wo sie sollte. Füsse und Beine absolut gefühllos lag ich an  tausend Schläuche und Kanülen ans Bett gefesselt und konnte mich nicht mal mehr selber aufsetzen, um in eine Schüssel zu kotzen. Ich konnte aber sehr wohl noch spüren, wie die Wehen versuchten, meinen Leib in zwei Teile zu spalten, während sich draussen die Dämmerung über die Stadt legte.


Gegen halb sieben Uhr morgens hatte sich mir endlich jemand erbarmt und mir eine heisse Bettflasche gebracht, die ich mir bei jeder Wehe, stehend über eine Bettkante gebeugt, aufs Kreuz presste, während M. munter unser Frühstück verputzte.
Ich war müde, aber zuversichtlich. Schliesslich war ich bald 24 Stunden im Spital und hatte seit gut 12 Stunden Wehen.

Das Ergebnis des nächsten Untersuchs war aber ernüchternd. Obwohl die Wehen nun alle vier bis fünf Minuten kamen, hatte sich der Muttermund noch kaum geöffnet. Dass wir gegen halb zehn dennoch in ein Gebärzimmer verlegt wurden, hob meine Laune etwas: Die Geburt musste absehbar sein, sonst hätte man uns bestimmt nicht in eins der zur Zeit sehr begehrten Zimmer gelassen. Sofort hüpfte stieg hievte ich mich in die quietschentchenfarbene Badewanne. Herrlich!


Kaum sass ich ich drin wurde ich von zwei äusserst attraktiven Teenagern Ärztinnen begutachtet, welche mich mit ernsten Gesichtern über die verschiedenen Möglichkeiten der Schmerzlinderung informierten. Ich lachte verächtlich.

Schmerzen? Was für Schmerzen? Das warme Wasser wirkte einfach wunderbar. Hier würde ich bleiben und mein Kind Kraft heissen Wassers und meiner Atemtechnik gebären. Wer hätte das gedacht: Die Eso-Ratgeber und Hypno-Birthing-Tanten hatten Recht gehabt! Nackt wie Gaia mich schuf, planschte ich die nächsten paar Stunden vor mich hin, veratmete lässig meine Wehen und fühlte mich so erdmütterlich entspannt, dass ich mich nicht mal durch das ständige Kommen und Gehen von weissbekittelten Menschen, die sich Folterinstrumente Geräte ausliehen oder mit der Hebamme einen Schwatz hielten, geschweige denn dem Handwerker, der die Fensterscheiben putzen wollte, irritieren liess.  

M. fertigte derweil munter Kohlezeichnungen seines nackten Weibs an. Schwurblis Herzchen schlug mit der Gleichmässigkeit und der Präzision einer Schweizer Quarzuhr. Alle waren glücklich und zufrieden. Alle ausser der Hebamme. Ihre Schicht neigte sich nämlich dem Ende zu. Im Flur standen die gebärbereiten Winterthurerinnen Schlange. (Kein Witz, später sollte ich erfahren, dass meine Zimmernachbarin ihr Kind in einem der Vorbereitungszimmer zur Welt bringen musste, weil alle Gebärsäle besetzt waren.). Also griff sich die Hebamme eine Art Häkelnadel und liess meine Fruchtblase platzen. (Was nebenbei bemerkt brutaler klingt, als es war. Ich hatte bloss etwas Mitleid mit meinem Baby. Das ist ja, als würde jemand plötzlich das Wasser aus der Wanne lassen.) Dann schraubte sie den im Muttermund Volksmund Wehentropf genannten Wehenbeschleuniger hoch.

Ja und dann, erst dann begriff ich wirklich, warum Wehen Wehen hiessen. Ich wand mich in der Badewanne wie ein hyperaktiver Oktopus. Nur noch dumpf erinnerte ich mich an den Vorbereitungskurs, bei dem geraten wurde, während der Wehen tief und gleichmässig in den Bauch zu atmen und in den Pausen zu entspannen, um Kraft für die nächste Wehe zu sammeln. Von Pausen konnte bei mir aber leider nicht mehr die Rede sein. Ich konnte nur noch schwach zwischen "auuhaaaaaa!!" und "AAAAAHHUUAAAAA!!!" unterscheiden. Dennoch atmete ich in den Bauch als gabs kein Morgen (ein Gedanke, der mir je länger je plausibler erschien) und röhrte dazu wie ein besonders brünstiger Hirsch: ChrrrOOOOOOoooohh!! ChrrrrooOOOOooohhh!! ("Oooh"-Töne helfen ja angeblich den Muttermund zu entspannen, hatte ich im Kurs gelernt. "Iiih-" und "eeeh"-Töne waren hingegen strikt zu vermeiden.) Noch immer war ich wild entschlossen, dieses Kind selber aus mir rauszukriegen.

"Soll ich Ihnen etwas Himalaya-Salz in die Wanne streuen?" fragte mich eine Pflegeassistentin. Ich schaute sie nur ungläubig an. Himalaya-Salz? Ich hatte mir ja Sorgen gemacht, dass ich nicht mit der Hebamme meines Vertrauens gebären konnte. Oder dass M. die Sache zu viel werden könnte. Auch hatte ich im letzten Moment kurz bereut, dass ich ohne entspannende Duftöle und muttermundlockernde Musik in die Gebärabteilung eingerückt war. Aber ganz ehrlich: Wäre ich nun plötzlich mit Darth Vader in einer Tiefgarage gewesen, ich hätt`s nicht mitgekriegt. Ich war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Im Nachhinein betrachtet war das paradoxerweise etwas vom Schönsten an der ganzen Sache: Dieses nur auf mich und diesen Moment konzentrierte. Ein schon fast meditativer Zustand.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende, als mich die Hebamme aus der Wanne holte, um mich abermals zu untersuchen. Nach ihrem Befund schickte ich meine innere Erdmutter in die Wüste und bestellte eine PDA. Ich hatte ja geahnt, dass eine Geburt kein Spaziergang werden würde, aber nach einer schlaflosen Nacht und bald 17 Stunden Wehen kam ich nun doch an meine Grenzen. Mein Muttermund hatte sich in der ganzen Zeit nur gerade einen Zentimeter mehr geöffnet. Eher hätte Gollum seinen Ring hergegeben, als meine Gebärmutter das Kind. Ich fürchtete, die Geburt könnte sich noch eine weitere Nacht hinziehen, dafür hatte ich schlicht keine Kraft mehr. 

Die Hebamme freute sich sichtlich, dass ich mich der modernen Medizin gegenüber aufgeschlossen zeigte. Die PDA würde möglicherweise auch meinen Muttermund entspannen, meinte sie und ging flugs los, einen Anästhesisten aufzutreiben. 

Ich erspare euch die Details meiner PDA. Ich werde hier nun nicht  seitenweise über das lange Warten auf die Anästhesistin (die vermutlich noch rasch das Staatsexamen abschliessen musste, die, da gerade im Akkord geboren wurde, gerade im Akkord PDAs stechen musste, das zumindest würde erklären, warum es eine volle Stunde ging, bis endlich eine sehr erschöpft aussehende frühreife Zwölfjährige junge Ärztin auftauchte, die mich M. erstmal einen telefonbuchdicken Stapel zum Thema "Risiken und Nebenwirkungen" durchackern liess (M.: Hast du Bluthochdruck, Leberzirrhose oder Schizophrenie?" Ich hätte ihn mit meinen Wehentropf gehauen, wenn ich die Kraft dazu noch gehabt hätte.), derweil sie abermals eine halbe Stunde verschwand, vermutlich um auf dem Spitaldach ein paar Selfies zu schiessen, eine zu rauchen und ihren Facebook-Status zu checkenvermutlich weil gerade wieder ein paar Erstgebärende festgestellt hatten, dass ihre im Geburtsvorbereitungskurs euphemistisch "Wellen" genannten Wehen nicht dem lauen Plätschern des Zürisees, sondern mehr einem ausgewachsenen asiatischen Tsunami ähnelten und darum auch sofort und auf der Stelle eine PDA wollten. 
Ich werde nicht darüber berichten, wie es sich anfühlt, wenn man dann endlich, während man sich windet und krümmt vor Schmerzen, aufrecht auf ein Bett sitzen und RUHIG HALTEN muss, damit einem die Nadel nicht versehentlich ins Schulterblatt gestochen wird. 
Auch nicht, dass die pubertierende Göre Anästhesistin nach gefühlten drei Stunden Stochern feststellen musste, dass sie leider beim Stechen nur auf Knochen stosse und deswegen weiter unten noch mal stechen müsse. 
Oder dass nicht mal das Stechen, sondern vielmehr das Abreissen des OP-Klebepapiers vom Rücken am meisten weh tat.
Und dass die PDA dann nicht dort wirkte, wo sie sollte, das habe ich ja auch schon erwähnt. 
Und dass man mir das erst gar nicht glauben wollte? 
Ein weiterer, von der Hebamme beorderter Anästhesist schnippisch meinte, er könne nichts machen, ich hätte bereits die höchste Dosis erhalten? 
Für eine halbe Stunde verschwand und dann meinem Geschrei entnahm, dass ich vermutlich noch immer starke Schmerzen hatte? Ja was, es tue noch immer weh? 
Tatsächlich? 
Wirklich wahr? 
Ja also, wenn das tatsächlich so sei (nein, ich finde das einfach noch lustig, so zu tun als ob, Sie Idiot), befand, dann müsse halt noch mal gestochen werden? 

Ich lehnte dankend ab. Denn mittlerweile sah ich endlich Licht am Horizont: Der Muttermund hatte sich auf 8 cm geöffnet!
Das gab mir wieder neue Kraft. Die Wehen waren sehr schmerzhaft, auch für M., dem ich fast die Hand zerquetschte, liessen aber zwischendurch ganz nach, so dass ich mich etwas erholen konnte. Ich hatte mich darauf gefasst gemacht, in dieser Phase zu fluchen oder Angst zu haben, aber ich war ganz ruhig. War die Erdmutter wieder da? 

Chrrrrrooooooohhhhh!

Und plötzlich ging alles ganz schnell. Sie könne das Köpfchen sehen, rief die Hebamme. Ob ich es auch sehen wolle? Ehrlich gesagt reichte mir das Wissen, dass wir uns auf dem Endspurt befanden. Ehrlich gesagt, würde ich lieber das sehen, was nach dem Köpfchen kam, denn dann wäre diese Tortur endlich vorbei. Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass ich es überhaupt sehen würde, denn gerade sehe ich nur noch Sterne. 

HHHHHHHHHRRRRRRROOOOOOOHHHNNG!

Aber halt, nur eine Rabenmutter würde sich nicht für dieses bestimmt sehr ergreifende und lebensverändernde Erlebnis interessieren, dachte ich. Und will ich eine Rabenmutter sein, noch bevor dieses Kind das Licht der Welt erblickt? "Ja", keuchte ich also, "ich will es sehen." Daraufhin verschwand die Hebamme und kam mit einem Spiegel wieder, der in etwa die Dimension des Spiegels Erised aus "Harry Potter" hatte. Doch wie sie ihn auch drehte und wendete, war der einzige Kopf den ich sah meiner. Und es war kein schöner Anblick. Wir liessen es also bleiben und konzentrierten uns zu meiner Erleichterung wieder aufs Wesentliche.

HHHHHHRHRRNNNNGGGGH!

M. flösste mir mit einem Strohhalm Wasser ein. Nun war ich fast froh für die falsch gestochene PDA: Das ermöglichte mir, selber zu pressen. Andererseits musste ich wegen meiner absolut gefühllosen Beine auf der Seite liegen und konnte nicht im Stehen oder Hocken gebären, was die Sache sicher leichter gemacht hätte. Stattdessen hiess mich die Hebamme, den Oberkörper bei jeder Wehe seitlich aufzustützen, ihr gleichzeitig mein eines Bein über die Schulter zu legen und dann mit aller Kraft zu pressen. Das war so kompliziert, wie sich das anhört. Und hatte ich gemeint, die Schmerzen können nicht mehr schlimmer werden, so hatte ich mich getäuscht. Es fühlte sich an, als würde mein Rücken auf Kreuzhöhe entzwei gespalten.

HHHHHHHRRRRRRRRNNNNNNGGGHH!!!!

Draussen war es abermals dunkel geworden. Die Lichter der Stadt glitzerten. M. hatte im Vorfeld etwas immer wieder betont: Komme was wolle, er würde an meinem Kopfende bleiben. Doch nun stand er völlig fasziniert neben der Hebamme und sah zu, wie sein Sohn ins Leben rutschte. Die Nabelschnur dreimal um den Hals gewickelt.
Wir hatten es geschafft. Das Mli war da.