Mittwoch, 1. Mai 2013

Abschiedsbrief


Mein lieber Bauch!
Ich weiss, unsere Beziehung war in den letzten dreissig Jahren nicht immer rosig. Die ersten 15 Jahre habe ich dich grösstenteils ignoriert und danach alles getan, dich wegzutrainieren, zu kaschieren, zu verstecken. Ich mochte Dich gar nicht, ganz ehrlich. Zu bleich warst Du mir. Und warum Du trotz 1000 Sit-ups nicht so flach und straff sein wolltest wie bei manchen Freundinnen, konnte ich auch nicht verstehen. Das süsse Geheimnis, das man so oft hätte in Dir vermuten können, stellte sich stets als doppelte Portion Pizza mit Dessert heraus.
In den letzten neun Monaten aber habe ich Dich ganz neu schätzen gelernt. Als ich erfuhr, dass in Dir still und heimlich ein kleines Menschlein wächst, sah ich Dich plötzlich mit ganz anderen Augen. Blickte nicht mehr verärgert, sondern mehr und mehr fasziniert, ja geradezu ehrfürchtig auf Deine wachsende Wölbung.

Jeden Abend habe ich Dich seither liebevoll mit naturkosmetischen Ölen massiert und insgesamt bestimmt hundert Fotos von Dir gemacht. Stolz wie ein Pfau bin ich in den letzten Monaten mit Dir herumspaziert und habe Dich in die Welt gestreckt, um allen zu zeigen, was Du drauf hast. Und stell Dir vor, ich habe ganz viele Komplimente wegen Dir erhalten! Ja! Sogar von Wildfremden! Schön seist Du. En typische Buebebuuch!

Du hast mir die Aufmerksamkeit und Zuneigung gedankt, in dem Du mich kein einziges Mal mit Übelkeit, Sodbrennen oder Magenschmerzen geplagt hast. Bist nicht mal gerissen, sondern hast Dich bloss mit der Linea nigra, einer wunderschönen Linie quer über den Bauchnabel verziert (und dem einen oder anderen zusätzlichen Haar, von dem ich schwören könnte, dass es vorher nicht da war. Aber das nehme ich Dir nicht übel.)

In Dir passiert jetzt gerade das grösste Wunder überhaupt. Und Du lässt mich daran teilhaben, in dem Du mich spüren und sehen lässt, wenn sich das Kindlein darin bewegt oder den Hitzgi hat.

Zwar wirst Du nun mit jedem Tag grösser und schwerer, was mir das Stehen, Gehen, Treppensteigen, Bücken, ja sogar das Liegen im Bett immer unbequemer macht.
Trotzdem werde ich Dich vermissen. Die magische Zeit könnte nun täglich vorbei sein. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich die neun Monate mit Dir nie vergessen werde.

Und ich verspreche Dir, dass ich ganz fest versuchen werde, unsere positive Beziehung auch dann aufrechtzuerhalten, wenn Du mir für den Rest meines Lebens zeigst, dass Dich diese intensive Beanspruchung etwas strapaziert hat.

Wie sagt man so schön: Es sind die inneren Werte, die zählen.

 

Kleiner Nachtrag:

Folgendes Zitat von Arthur Schnitzler stand heute auf unserem Kalenderblatt:


"Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut."


Passt doch irgendwie ganz wunderbar zum Thema Bauch. Und Geburt.

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