Montag, 29. Oktober 2012

Ruhe vor dem Sturm


Jeden Morgen erwachte ich sprungbereit. Ich lauschte vorsichtig in mein Inneres, oder besser: meine Innereien, bereit, sofort zur am Vorabend sauber geschrubbten Toilette zu rennen. Ich hatte sogar überlegt, dort gedämpfteres Licht zu installieren und einen kuschligen Teppich, vielleicht sogar ein paar Kissen auf die Fliesen zu legen, damit ich mich dort in den kommenden Wochen und Monaten wohler fühlen würde.

Aber jeden Morgen erwachte ich und fühlte mich so munter wie an jedem anderen Tag.

Die Nebenwirkungen der Frühschwangerschaft lasen sich für gewöhnlich ja fast wie die Symptome einer seltenen tropischen Krankheit: Verändertes Geruchs- und Geschmacksempfinden, metallischer Geschmack im Mund, Heisshunger, Sodbrennen, Verstopfung, Hautverfärbungen, Stimmungsschwankungen, geringere Belastbarkeit, Harndrang, extreme Müdigkeit, Verfärbung der Brustwarzen, erhöhte Temperatur, leichte Blutungen, Schwindel, Zahnfleischbluten, Kurzatmigkeit, Schlaflosigkeit ...

Die einzige Veränderung die ich tatsächlich an mir feststellen konnte, war zu M.s Freude die Tatsache, dass ich fast aus meinen BHs platzte. Leider hatte er nicht viel davon, denn eine Zeit lang war mir jede Berührung zuwider.

Ich könnte schwören, dass ich jedes Mal, wenn ich bloss geglaubt hatte, schwanger zu sein, mehr Schwangerschaftsanzeichen zeigte, als nun, da ich tatsächlich in Erwartung war.

Doch freute ich mich darüber, bis jetzt eine so beschwerdefreie Schwangerschaft genossen zu haben? Dankte ich dem Himmel, dass es mir so gut ging? Nein. Von Tag zu Tag wurde ich misstrauischer. War es nicht seltsam, dass ich so gar keine Schwangerschaftsanzeichen zeigte?

Nachdem ich mich also, statt zu arbeiten, durch alle Schwangerschaftssymptome und -beschwerden gegoogelt hatte, die das englisch- und deutschsprachige Internet zu bieten hatte, fing ich nun an, "Schwangerschaft keine Verstopfung",
"Schwangerschaft keine Müdigkeit" oder "Schwangerschaft keine Übelkeit" zu suchen.

Das schreckliche Ergebnis: Frauen mit starker Übelkeit zeigten erhöhte Werte des Schwangerschaftshormons HCG. Es sei ein Indiz dafür, dass sich die Schwangerschaft sehr gut entwickle, ausserdem hätten sie weit seltener Fehlgeburten.

Fortan interpretierte ich jedes Zwicken im Bauch als Anzeichen einer drohenden Fehlgeburt. Ich war in ständiger Alarmbereitschaft. Mit zugekniffenen Augen marschierte ich stramm an Kinderfachgeschäften vorbei. Ich bin sonst nicht abergläubisch, aber in diesem Fall war ich überzeugt, es würde Unglück bringen, auch nur ein einziges niedliches Söckchen zu kaufen.

Eines Abends sass ich mit M. vor dem Fernseher. Wir schauten uns irgendeinen Unsinn an, weil wir beide zu faul waren, umzustellen. Es kam eine Werbung für Halsbonbons, die ein atmosphärisches Bergpanorama zeigte. Und urplötzlich schossen mir die Tränen in die Augen und ich begann, wie ein Schlosshund zu heulen. "Was ist denn, was hast du?" fragte M. besorgt. "Die Berge, sie sind so schön!" schluchzte ich.

M. begann zu lachen und dann realisierte ich: Ich weinte Sturzbäche wegen einer Halsbonbon-Werbung. Das MUSSTE doch ein Schwangerschaftsanzeichen sein!

Am nächsten Tag kaufte ich einen Strampler.
 

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